Zweierlei Maß

Dieser Tage gab es eine echte Alarmstimmung. Wer noch die Zeiten des Kalten Krieges kennt, wird im ersten Moment gedacht haben: „NATO-ALARM!“ Das hieß damals übersetzt: „Hilfe, der Iwan kommt!“ und galt als Auftakt für alle möglichen Weltuntergangs-Szenarien.

Was war passiert?

In Polen war eine Rakete eingeschlagen und hatte zwei Menschen getötet. Die Behauptung, es handele sich um eine von russischen Streitkräften abgefeuerte Rakete, erwies sich nach wenigen Stunden als „fake news“. Tatsächlich war es eine ukrainische Boden-Luft-Rakete.

Diese Dinger sind halb-intelligent. Wenn sie ein Ziel anvisiert haben, versuchen sie es zu treffen oder in seinem unmittelbaren Nahbereich zu explodieren, damit die Splitter es vernichten. Aber auch die Flugkörper, die sie bekämpfen sollen, fliegen nicht immer sturheil geradeaus und bieten ein leichtes Ziel. Manche von ihnen machen Ausweichmanöver oder erhöhen oder verringern ihre Geschwindigkeit, so daß es selbst bei „intelligenten“ Flugabwehrraketen mal zu Fehlschüssen kommen. Hat die Rakete dann aber keine Feindortung mehr, schaltet sie sich nicht automatisch ab oder löst sich einfach in Luft auf. Gleich dem völlig losgelösten Major Tom im Lied fliegt sie eben weiter. Anders als Major Tom verschwindet sie aber nicht in der Tiefe und Kälte des Weltraums. Wenn ihr Treibstoff verbrannt ist, stürzt sie ab, und wenn sie abstürzt, explodiert sie. Wenn dann unglücklicherweise Menschen in der Nähe sind, kann es zu Todesopfern kommen. Auch zehn Kilometer hinter der Grenze zu dem Land, in dem Krieg herrscht.

Nun müssen aber nach der Doktrin bundesdeutscher Medien Putins Russen an allem bösen in der Welt schuld sein; außer vielleicht an „Corona“, das waren möglicherweise die im Westen auch nicht wirklich beliebten Chinesen…. Daher wurde gleich recht sophistisch, wenngleich auch nicht wirklich widerlegbar, eine Kausalkette konstruiert: Hätte Rußland nicht die Ukraine angegriffen und würde jetzt sogar im Westen der Ukraine Ziele bombardieren, hätten die ukrainischen Streitkräfte nicht diese fatale Rakete abschießen müssen, und zwei Polen würden sich noch ihres Lebens erfreuen.

So weit, so richtig, wenngleich auch ein wenig einseitig.

In den gleichen Tagen urteilte nach über acht Jahren ein holländisches Gericht über den Abschuß des Fluges MH 17. Dieser Linienflug der Malaysia Airlines wurde am 17. Juli 2014 über dem ostukrainischen Donbass abgeschossen. Verwendet wurde eine Rakete aus russisscher Produktion, die vermutlich von Rußland aus an die Separatisten geliefert worden ist; möglicherweise leisteten bei dem Abschuß auch Russen personelle bzw. technische Hilfe. Der Grund für den Beschuß des Zivilflugzeuges konnte von dem holländischen Gericht nicht geklärt werden, weil die Angeklagten es aus Gründen, die aus ihrer Sicht bestimmt verständlich sind, unterlassen haben, sich dem Verfahren zu stellen. Allerdings ist sehr, sehr unwahrscheinlich, daß sie bewußt und absichtlich ein harmloses Zivilflugzeug angegriffen und damit 298 Menschen ermordet haben. Wahrscheinlicher ist, daß sie den aus dem Nordwesten der Ukraine kommenden Flieger für einen der regulären ukrainischen Streitkräfte hielten, die zu dem Zeit die abtrünnigen Separatistenrepubliken Donezk und Lugansk massiv beschossen haben.

Nur mal so zur Erinnerung: Dieser permanente Bürgerkrieg im Osten der Ukraine bis zum Einmarsch der Russen forderte in rund acht Jahren etwa 14.000 Todesopfer, und zwar beileibe nicht nur Kämpfer beider Seiten, sondern auch jede Menge Zivilisten. Verständlich insofern, daß die Verteidigungskräfte der beiden Republiken vermeintlich feindliche Flugzeuge angegriffen haben. Tragisch allerdings, daß ihre Zielerkennung ungenau war und sie statt eines nicht existenten Kampfjets einen harmlosen Linienflug erwischt haben.

Bei Anlegung des gleichen Maßstabes wie bei der in Polen niedergegangenen Rakete müßte man jetzt also sagen: Zwar hatte beim Abschuß von MH 17 ein ukrainischer Separatist oder gar ein Russe den Finger auf dem Feuerknopf, aber ohne den Versuch der Ukraine, die abtrünnigen Regionen gewaltsam zurück in den Staatsverbund zu zwingen, mit militärischer Gewalt, wäre dieser Abschuß genausowenig erfolgt wie ein Raketen-Irrläufiger nach Polen.

Indem aber westliche Medien das auf der einen Seite betonen und auf der anderen Seite verschweigen, verlieren sie immer weiter an Vertrauenswürdigkeit.

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