1997 lernte ich in der berühmten Haftanstalt „Santa Fu“ Öser Öczan kennen, der als „Blutschandemörder“ Schlagzeilen gemacht hatte.

„Blutschandemörder“ ist natürlich ein völlig falscher Begriff. Es ging bei Öczans Tat nicht um Blutschande, sondern um Blutrache, Vendetta. Passiert war folgendes:

Öczans Sippe hatte seit längerer Zeit eine Vendetta mit einem verfeindeten Clan; beide Sippen hatten Familienzweige sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Öczans Familie war am Zug, ein männliches Mitglied der gegnerischen Sippe umzubringen;  nach dortiger Vorstellung ein zwingendes Gebot der Ehre. Traditionell fällt dem ältesten Sohn diese Aufgabe zu. Aber Öser Öczan war HIV-positiv und drogenabhängig. Also tagte der Familienrat und kam – mit seiner Zustimmung – zu dem Ergebnis, daß Öser Öczan für den Fortbestand der Familie weniger wertvoll sei als sein älterer Bruder, der weder HIV-positiv noch drogenabhängig war.

In Erfüllung dieses Auftrages reiste Öczan in die Türkei. Er besorgte sich eine Ceska Kaliber 7,65 mm; eine Waffe, die offenbar nicht nur beim sogenannten NSU oder bei Salafisten beliebt ist. Er klingelte an der Tür eines Mitglieds der feindlichen Familie, und als der Mann öffnete, schoß Öser Öczan ihm dreimal in den Bauch und flüchtete dann.

Die Polizei erwischte ihn, und er saß erst einmal im Gefängnis. Allerdings nicht lange. Denn es stellte sich bald heraus, daß er seinen Konkurrenten nicht tödlich getroffen hatte. Der Mann wurde operiert und überstand den Mordanschlag ohne bleibende Schäden. Öser Öczan wurde gegen eine Kaution von damals umgerechnet 20.000 D-Mark auf freien Fuß gesetzt. Einige Zeit später kam es zu einer Verhandlung. Öser Öczan wurde verurteilt. Zu einer Geldbuße von umgerechnet 80 D-Mark wegen illegalen Waffenbesitzes. Der Mordanschlag wurde nicht einmal angeklagt.

Ich fragte ihn: „Was wäre passiert, wenn du ihn wirklich erledigt hättest?“

Öser Öczan erklärte mir diesen Aspekt türkischer Rechtspflege: Es wäre ein Mord aus ehrenhaften Gründen gewesen, begangen an einem erwachsenen Mann. So was, sagte er mir, bringe in der Türke drei bis fünf Jahre, und man habe gute Aussichten darauf, davon nur einen Teil absitzen zu müssen, vielleicht die Hälfte, vielleicht erin Drittel.

Allerdings bekam er wegen eines zweiten dann nicht nur versuchten, sondern vollendeten Mordes tatsächlich noch lebenslang, was im Fall eines HIV-Infizierten ja nun trotz jungen Alters von damals etwa 27 Jahren auch wirklich lebenslang bedeuten kann.

Der zweite Fall hatte sich zu Öser Öczans persönlichem Pech nämlich in Deutschland abgespielt.

Dorthin zurückgekommen, hatte der Mann sich eine neue Waffe beschafft; wieder Ceska, diesmal aber im stärkeren Kaliber 9 Millimeter Parabellum mit 17-Runden-Zick-Zack-Magazin. Er lauerte seinem zweiten Opfer auf, als dieser seinen Sohn zum Kindergarten brachte. Natürlich griff Öser Öczan nicht an, solange das Kind noch in der Nähe war. Es gilt als höchst unehrenhaft, einen Mann vor den Augen seines Sohnes zu erschießen; das Kind könnte einen seelischen Schaden erleiden… Außerdem besteht ja immer die Möglichkeit, daß auch das Opfer bewaffnet ist und zurückschießt, und wenn es eine richtige Schießerei gibt, dann könnte das Kind durch einen Irrläufer getroffen werden. Das wäre noch unehrenhafter, ein geradezu todwürdiges Verbrechen.

Also wartete Öser Öczan, bis der kleine Junge sicher im Kindergarten war und der Angehörige der feindlichen Familie sich in sein Auto gesetzt hatte. Dann trat er von hinten an den Wagen heran, auf der Fahrerseite, und gab durch die Tür drei Schüsse auf den anderen Türken ab.

Die Obduktion ergab später, daß schon einer dieser ersten drei Schüsse tödlich gewesen war; er hatte das Herz getroffen. Aber das wußte Öczan zu dem Zeitpunkt natürlich nicht. Er nahm nun wahr, daß sein Feind sich nach rechts vorn neigte, in Richtung Handschuhfach. Öczan interpretierte das so, daß er wohl nicht richtig getroffen habe und der andere jetzt aus dem Handschuhfach seinerseits eine Waffe holen und zurückschießen werde. Ein wenig panisch leerte er daraufhin seine Waffe vollständig in Richtung des Opfers; 17 Patronen im Magazin und eine vor dem Lauf; der Mann war durchsiebt wie in einem Mafia-Film.

Diesmal wurde Öser Öczan tatsächlich wegen Mordes verurteilt, zu lebenslang, was er nach seinem eigenen Rechtsverständnis völlig daneben fand. Die Richter, die ihn verurteilt hätten, seien Faschisten gewesen, meinte er….

Betrachtet man sich diese höchst unterschiedliche Form der Rechtspflege in solchen Fällen, dann kann man sich leicht ausrechnen, was dem Mörder von Johnny K. in der Türkei droht, wenn und falls die dortige Justiz überhaupt gegen ihn vorgeht. Aus seiner Sicht hat er den jungen Mann deutsch-thailändischer Abstammung natürlich „wegen der Ehre“ getötet. Also „Mord aus ehrenhaften Gründen“. Drei bis fünf Jahre vermutlich, davon gerade mal die Hälfte abzusitzen. Wenn die türkische Justiz bzw. die Polizei es nicht vorziehen, des Mannes lieber gar nicht erst habhaft zu werden. Was aus ihrer Sicht vielleicht die bequemste Lösung wäre…

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