Totengräber

Am letzten Novembertag 2021 hat das Bundesverfassungsgericht in einigen Hauptsacheverfahren die sogenannte „Bundesnotbremse“ für verfassungskonform erklärt. Einer der ersten Kommentatoren war der Verfassungsrechtlicher Dr. habil. Ulrich Vosgerau. Er meinte:

Der Erste Senat, also der Harbarth-Senat des Bundesverfassungsgerichts, entwickelt sich – ohne dass hiergegen bislang ein Aufstand der Staatsrechtslehre erkennbar würde – zum Totengräber des freiheitlichen Verfassungsstaates.

Im Wesentlichen ging es bei dem, was die Rechtsgeschichte eines Tages vielleicht „den Totengräber-Beschluß“ nennen wird, um zwei Dinge: Schulschließungen und nächtliche Ausgangssperren.

Bei den Schulschließungen wird jeder, der erstens ein wenig Lebenserfahrung und zweitens noch einen gesunden Menschenverstand haben, dem Verfassungsgericht zumindest weitgehend zustimmen. Schulkinder sind Virenschleudern, unabhängig davon, ob sie selbst erkranken oder schlimmstenfalls einen kurzen, milden Verlauf haben. Sowas weiß man schon lange. In den Zeiten der berüchtigten Hongkong-Grippe 1968 bis 1970 gab es (wenngleich auch deutlich kürzer als bei „Corona“) „grippefrei“ (in manchen, nicht in allen Schulen). Das waren die einzigen staatlichen Maßnahmen bei einer Pandemie, die in den damaligen beiden deutschen Staaten BRD und DDR zusammen immerhin etwa 54.000 Menschen getötet hat. Vielleicht hat man sich damals damit begnügt, weil es noch keinen Drosten, Wieler, Spahn gegeben hat. Und der PCR-Test noch nicht erfunden war…. Oder man fand es vor gut fünfzig Jahren einfach noch normal, daß in einer Wintersaison vornehmlich sehr alte und vorerkrankte Menschen leider leichter sterben können. Jedenfalls hat wegen der damaligen Schulschließungen niemand das Verfassungsgericht angerufen….

Eine andere Kategorie allerdings sind nächtliche Ausgangssperren, die man sonst nur vom KRIEGSrecht her kennt.

Die offizielle Begründung lautete, daß man damit die Zahl von Kontakten und damit Ansteckungsgefahren vermeiden wollte. Weltfremde Politiker dachten sich: Wenn die Kollegen oder Kumpel nach Feierabend bestenfalls bis vielleicht halb zehn Bier und möglicherweise auch Schnaps trinken können und dann bis zehn zuhause sein müssen, dann haben sie wohl keine Lust darauf. Nach dem Motto: Halb besoffen ist rausgeworfenes Geld! – Die Kumpels und Kollegen aber sind anpassungsfähiger, als die Politik ihnen zutraut. Statt abends um elf oder um Mitternacht angesäuselt nach hause zu torkeln und Bußgelder zu riskieren, haben sie dann einfach bei ihrem Gastgeber gezecht, bis sie müde waren und auf der Couch oder vielleicht auch auf dem Fußboden einschlafen konnten. Wenn man hinreichend betrunken ist, stört auch ein harter Fußboden beim Schlafen nicht…. (Der stört erst morgens, wenn man nicht nur mit einem Kater, sondern vielleicht auch noch mit steifen Knochen aufwacht.) – Oh, und dann morgens nach hause zu fahren – oder zur Arbeit, je nachdem – hat auch den Vorteil, daß man dann vielleicht schon ausgenüchtert genug ist, sein eigenes Auto zu benutzen, was man nachts im Suff tunlich bleiben lassen sollte.

Auch Besuche von Kinos, Theatern oder Konzerten, die erst nach zehn enden, ließen sich mit der Ausgangssperre nicht verhindern, allein deshalb, weil sowieso keine solchen Vorstellungen stattfinden durften und folglich nicht besucht werden konnten….

Die Ausgangssperren waren also für jeden nur halbwegs vernünftigen Menschen völlig unsinnig.

Daß der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts diese Maßnahme, die auf die Verbreitung des Virus nun überhaupt keine Wirkung hatte, trotzdem durchgewunken hat, läßt nur den Schluß zu, daß man dort entweder fern jeder Lebenswirklichkeit entscheidet oder aber bewußt der Politik einen Persilschein ausstellen will.

Was, historisch gesehen, alles andere als neu wäre. Talleyrand: „Die Politik ist die Hure der Justiz.“ Georg Büchner: „Die Politik ist die Hure der Fürsten!“ – Aber sowohl Talleyrand als auch Büchner lebten in vordemokratischen Zeiten. (Talleyrand, der unter Napoleon Minister gewesen war, lebte genauer genommen in sowohl nach-demokratischen als auch vor-demokratischen Zeiten, denn der nämliche Napoleon hatte der französischen Republik den Garaus gemacht.)

In dieser Hinsicht ist wohl das Totengräber-Zitat des Dr. Vosgerau zu verstehen. Und sein Erstaunen darüber, daß „die Staatsrechtslehre“ bisher keinen Aufstand erkennen läßt, ist auch ein wenig lebensfremd. Dr. habil Vosgerau ist Privatdozent; trotz Habilitation also kein „echter“ Professor; er ist auch als Anwalt in Berlin tätig. Aber wer ist denn der durchschnittliche Vertreter „der Staatsrechtslehre“? Das ist ein „echter“, sprich verbeamteter Professor, der seinen Status nicht gern verlieren möchte und sich daher gegenüber seinem Dienstherrn, dem Staat, wohl besonders dann zurückhält, wenn dieser Staat soeben einen Persilschein von einem der beiden Senate des Höchstgerichts erhalten hat. So ist das nun mal eben.

Und auch die, die nun raunen, jetzt sei wohl die Zeit, wo man das Widerstandsrecht aus Artikel 20 Grundgesetz anwenden könne, solle, müsse, dürften derzeit noch eine winzige Minderheit sein. Wenn allerdings eine allgemeine Impfpflicht kommt, ein strafbewehrter Impfzwang, und wenn auch das von diesem Senat abgesegnet wird, dann mag sich die derzeit wohl noch geringe Zahl erhöhen und aus dem Raunen ein lauter Ruf werden. Dann könnte die Metapher von der „Totengräberschaft“ eine neue, dramatische und ungewollte Bedeutung bekommen.

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