Die NPD produziert Skandale zwar nicht unbedingt mit der Kadenz eines Maschinengewehrs, aber manchmal fast so schnell, wie ein Entenjäger seine Pump-Action-Schrotflinte durchladen und den nächsten Wasservogel vom Himmel holen kann. Der aktuellste rankt sich um Patrick Wieschke, Spitzenkandidat in Thüringen, wo am 14. September Landtagswahlen sind.

Nach ihrer äußerst knappen Niederlage in Sachsen gibt es zumindest parteiintern ein klein wenig Hoffnung in Richtung Thüringen. Dort hatte die NPD vor fünf Jahren 4,3 Prozent. Aktuell wird sie in Meinungsumfragen bei 4 Prozent gehandelt. Wieschke und seine Mannschaft haben allerdings das Verdienst, daß es vor rund einem Monat gerade mal halb so viel war, nämlich 2 Prozent. Recht fleißig machen sie seit Mitte August eine Thüringen-Tour, die binnen eines Monats nicht weniger als 87 öffentliche Auftritte auf Marktplätzen und an ähnlichen Orten unter freiem Himmel vorsieht.

Da kommt es NPD-Gegnern natürlich sehr gelegen, wenn am vergangenen Freitag, also ungefähr neun Tage vor dem Wahltermin, ein früherer Vorwurf gegen Spitzenmann Wieschke wieder an die Öffentlichkeit gelangt. Oder richtiger: Überhaupt erstmals an die Öffentlichkeit gelangt. Denn damals, vor inzwischen 13 Jahren, wußte so gut wie niemand etwas davon. Oder, richtiger gesagt, niemand außerhalb von Behörden und dem vermutlichen Opfer und dessen Familie.

Es geht um sexuelle Nötigung eines Kindes, verbunden mit Freiheitsberaubung, Bedrohung und Körperverletzung.

Nach Angaben des damals zwölf Jahre alten Opfers soll Wieschke – selbst 20 und damit dem Gesetz nach nach Heranwachsender und nicht Erwachsener – sie vier Stunden lang in seiner Wohnung eingeschlossen haben. Er soll ihr ein Messer an den Hals gehalten haben, als ihr Vater sie anrief, damit sie diesem vorlog, sie sei bei einer Freundin. Das selbe Messer habe er drohend in Griffweite gehabt, als er ihr gegen ihren Willen unter den Pullover gefaßt habe; darüber hinaus habe er ihr damit eine Schnittwunde an der Hand zugefügt. Soweit das damalige Opfer.

Bei einer späteren Hausdurchsuchung wurde das Messer gefunden. Über einen Test auf Fremdblut und/oder DNA sagen die bisher veröffentlichten 16 Seiten Akten nichts aus. Wieschke selbst bestritt damals gegenüber den Behörden die Tat und bestreitet sie heute öffentlich. Seine Darlegung: Das frühreife Kind habe sich in ihn verliebt; weil er ihres minderjährigen Alters wegen diese Gefühle nicht erwidert und ihr „einen Korb gegeben“ habe, habe sie ihn aus Rache falsch beschuldigt. Er hätte damals gegen sie auch Anzeige erstattet, wegen Falschbeschuldigung. Wobei er allerdings eigentlich hätte wissen müssen, daß ein Kind unter 14 Jahren nicht strafmündig ist und so eine Anzeige daher bestenfalls eine symbolische Geste ist, nicht aber zu einem behördlichen Verfahren führen kann.

Eine gerichtliche Aufarbeitung des Vorfalls wird schwerlich möglich sein; inzwischen ist die Frist der absoluten Verfolgungsverjährung von zehn Jahren schon lange abgelaufen. Warum es damals nicht zu Anklage und Urteil – Verurteilung oder Freispruch – gekommen ist? Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gemäß § 154 Strafprozeßordnung eingestellt. Das kann geschehen, wenn die zu erwartende Verurteilung in keinem vernünftigen Verhältnis zu einem Urteil steht, das bereits ergangen ist oder ansteht. Wieschke wurde wegen Anstiftung zu einem Sprengstoffanschlag gegen einen mobilen Döner-Imbiß sowie wegen Körperverletzung (in einer anderen und als ehrenhaft anzusehenden Sache) zu zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.

(Die als ehrenhaft anzusehende Sache: Ein Kamerad von Wieschke hatte Geld aus der Kameradschaftskasse entwendet, woraufhin Wieschke ihn verprügelt hat. Das ist zwar nicht legal, aber menschlich nachvollziehbar.)

Die Einstellung ist mithin bestimmt kein Indiz für damalige Unschuld; aber auf der anderen Seite wird es einen klaren Schuldbeweis nicht mehr geben können.

Ich persönlich aber glaube weit eher dem damals 12-jährigen Mädchen als Patrick Wieschke.

Denn mir kommt dabei eine Situation aus dem Sommer 1999 in Erinnerung. Zusammen mit zwei anderen Kameraden war ich damals im Wahlkampfeinsatz in Sachsen. Wir hatten eine Woche „Dienst an der Wahlkampffront“ geschoben und wollten in Richtung Heimat; zusammen mit einer weiteren Kameradin, die wir in Hannover absetzen wollten. Wir fuhren aber von Riesa aus nicht direkt. Denn an einem Sonnabend Mitte August sollte eine Demonstration in Thüringen stattfinden. In Eisenach oder Erfurt, ich weiß es nicht mehr, vielleicht sogar in Jena oder Gera, einer dieser Städte, die an der Bundesautobahn 4 hintereinander aufgereiht sind wie Perlen auf einer Kette. Anmelder und vorgesehener Leiter war Patrick Wieschke, damals übrigens noch nicht in der NPD, sondern parteifreier Aktivist und gerade mal ein wenig älter als 18. Die Demonstration war verboten worden; der Todestag von Rudolf Hess lag nahe, so daß die Behörden angeblich eine Zweckentfremdung der Demonstration befürchteten. Außerdem war gerade Ignatz Bubis gestorben, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, so daß die selben Behörden antisemitische Ausschreitungen befürchteten.

All das war natürlich Blödsinn. Das gegen das Verbot angerufene Gericht hob es am Freitag auf; wir fuhren also am Sonnabend in entsprechender Frühe vom Wahlkampflager aus los.

Schon ein paar Dutzend Kilometer vor dem Demonstrationsort wurden wir von der Polizei gestoppt und uns mitgeteilt, daß die Demonstration verboten sei. „Ihre Informationen sind inaktuell“, sagte ich dem Einsatzleiter der Polizei. „Das Verbot ist gestern vom Verwaltungsgericht außer Vollzug gesetzt worden; es hat sogar die heutige Ausgabe der BILD-Zeitung darüber berichtet.“ „Leider sind Ihre Informationen inaktuell“, belehrte mich der Beamte. „Die Behörde sah sich heute morgen genötigt, die Demonstration neuerlich zu verbieten. Grund dafür ist, daß unsere Kollegen heute nacht um drei zu einem Fall häuslicher Gewalt gerufen wurden. Ihr Anmelder und vorgesehener Versammlungsleiter, Herr Wieschke, hat seine Mutter verprügelt, wobei er einen Alkoholisierungsgrad von 2,7 Promille hatte. Er befindet sich zur Zeit in unserer Ausnüchterungszelle, und die Behörde meint, daß ein Versammlungsleiter, der in der Nacht vor seiner Versammlung ein solches Delikt begeht, für die Leitung einer Demonstration nicht geeignet ist und die Demonstration daher aus diesem neu hinzugetretenen Grund zu verbieten war.“

Wogegen man nicht viel sagen kann. Weder juristisch noch im Sinne von bürgerlicher Ethik. Daß ein Mann seine eigene Mutter verprügelt, geht ja nun mal gar nicht. Ein „no go“. Und wenn ein Mann – egal, ob gerade 18 und sturzbesoffen – so was tut, dann traue ich ihm auch noch jede Menge anderer charakterliche Entgleisungen zu.

Deshalb bin ich weit eher geneigt, dem damaligen Opfer zu glauben als Patrick Wieschkes Dementi.

Interessant aber wird die Frage, wie die NPD, die so gern zum Motto „Kinderschänder an die Wand!“ demonstriert, mit der Angelegenheit umgehen wird. Unabhängig von der Beweislage hätte jemand, dem jemals ein solcher Vorwurf gemacht worden ist, wohl besser daran getan, sich von seiner Partei nicht als Spitzenkandidat aufstellen zu lassen. Für einen aktiven Mann gibt es ja auch andere Möglichkeiten, sich für seine Überzeugung einzubringen.

Interessant wäre auch die Frage, ob Wieschke seinen Kameraden ganz offen gesagt hat: „Leute, es gibt da eine Sache aus ferner Vergangenheit, ist zwar nichts dran, aber ich konnte mangels Prozeß leider auch meine Unschuld nicht beweisen, und es ist möglich, daß so was zeitnah zum Wahltag lanciert wird.“ Ob Wieschke so ehrlich war, wird sich vielleicht irgendwann erweisen. Und wenn ja, müßte die NPD erklären, warum ihr die Spitzenkandidatur dieses Mannes wichtiger war als die damit möglicherweise verbundenen Gefahren. Wenn nein, müßte Wieschke sich darüber Gedanken machen, ob so etwas nicht parteischädigendes Verhalten ist.

Daß der Fall Wieschke die NPD allerdings einen möglichen Landtagseinzug in Thüringen und damit einen Ersatz für die weggefallene Fraktion in Sachsen kosten wird, darf als unwahrscheinlich angesehen werden. Auch wenn sie – übrigens genau wie in Sachsen! – ihre Umfragen in den letzten Wochen vor der Wahl um 2 Prozent steigern konnte – es sprechen keine erkennbaren Faktoren dafür, warum sie diesmal mehr bekommen sollte als vor fünf Jahren. Im Gegenteil: In Thüringen tritt genau wie in Sachsen die „Alternative für Deutschland“ an, die sich nach ihrem beinahe zweistelligen Ergebnis in Sachsen natürlich im Aufwind befindet. Selbst wenn sie wie in Sachsen nur etwa ein Prozent ehemalige NPD-Wähler für sich gewinnen könnte, wäre das auf jeden Fall wohl der Anteil, der der NPD zu einer neuen Fraktion als Ersatz für die alte verhelfen würde.

Wobei es unter diesen Umständen möglicherweise mittelfristig für die NPD besser ist, nicht ausgerechnet jemanden namens Patrick Wieschke als Mitglied des Landtages und möglicherweise sogar Fraktionsvorsitzenden zu haben.

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