Das Sommerloch kennt jeder. Es ist schon so lange im Sprachgebrauche, daß es inzwischen im Duden steht. Es beschreibt die Situation, daß im Sommer ein wenig mediale Saure-Gurken-Zeit ist. Was übrigens logische und nachvollziehbare Gründe hat. Denn da sind nun mal Große Ferien und Urlaubs-Hochsaison. Viele Leute sind nicht an ihrem Arbeitsplatz, und demzufolge geht in der großen, weiten Welt weniger vor als sonst. Da müssen Journalisten die Spalten ihrer Zeitungen schon mal mit ausgelutschten Meldungen über das Ungeheuer von Loch Ness und ähnliche Dauerbrenner füllen. Typische Sommerloch-Themen halt.
Mindestens in diesem Jahr gibt es wohl auch ein Winterloch, was verständlich ist, weil aufgrund der Lage der Weihnachtsfeiertage „Arbeitnehmerweihnachten“ ist. Also muß offenbar ein anderer Lückenbüßer her. Und da schottische Seen im Sommer attraktiver sind als in der kalten Jahreszeit, kommt „Nessie“ dabei wohl eher nicht infrage.
Das aktuelle Ungeheuer, ähnlich wenig faßbar wie das von Loch Ness, ist das NPD-Verbot.
Die Nachrichten darüber konnte man über einen Zeitraum von rund einem Jahr wie nach der Salami-Taktik verbreiten, immer was neues. Zuerst natürlich die Forderung danach, die ein echter Dauerbrenner ist; damit kann man nix falsch machen. Dann entschieden sich die Innenministerien, die V-Leute (die im Jahr 2003 das Verfahren zum Platzen gebracht hatten) „abzuschalten“. Danach gab man sich nicht weniger als ein halbes Jahr Zeit, Material zu sammeln. Bürokratische Krötengeschwindigkeit! Dann konnte man über eine ungefähr tausend Seiten starke Materialsammlung berichten, die zwar als „amtlich geheimgehalten“ klassifiziert war, aber offenbar einigen Zeitungen vorlag, so daß daraus zitiert werden konnte. Und letztlich steigerte sich die künstlich erzeugte Spannung, als der 5. und 6. Dezember näherrückte. Denn zu diesen Daten sollte zunächst die Innenministerkonferenz eine Empfehlung abgeben und dann die Konferenz der Ministerpräsidenten für den Bundesrat einen Beschluß fassen, auf daß der Bundesrat seinerseits einen Beschluß fasse.
Einen Beschluß, daß ein Beschluß gefaßt werden möge. Das erinnert an Reinhard Meys „Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars….“ Schön verbürokratisierte Demokratie. Wenn einer einen Grund sucht, Anti-Demokrat zu werden, dann hätte er ihn hierin vielleicht gefunden!
Aber damit war das Faß noch lange nicht ausgeschöpft. Auch nicht, als wenige Tage später der Bundesrat tatsächlich entschied, ein neues Verbotsverfahren in Gang zu setzen. Denn antragsberechtigt sind schließlich insgesamt drei Verfassungsorgane: Außer der Länderkammer auch die Bundesregierung und das Bundesparlament. Und gleich entstand Druck, auch die anderen beiden Verfassungsorgane mögen sich bitteschön positionieren, mögen bitteschön ihre eigenen Anträge stellen, wie es Anfang 2001, beim ersten Anlauf, schon einmal geschehen ist.
Für die Bundesregierung bezeichnete Innenminister Friedrichs das als eine suboptimale Idee, um im Sprachgebrauch eines früheren SPD-Bundeskanzlers zu bleiben, und auch Parlamentspräsident Lammert war nicht angetan.
Tatsächlich stoßen Beobachter der politischen Landschaft auf einen interessanten Aspekt. Es soll nach Meinungsumfragen (wie repräsentativ auch immer sie sein mögen) oder nach den bei Fernsehanstalten beliebten TEDs (die im Zweifelsfall noch weniger repräsentativ sind) ungefähr 80 Prozent Befürworter eines NPD-Verbotes geben. Hin und wieder gab es angesichts der öffentlichen Erörterung aber auch die notwendige ergänzende Gegenfrage: Wer denn an ein NPD-Verbot glaube. Die Werte dort waren nicht ganz so hoch, aber auch eine satte Mehrheit von durchschnittlich um 60 Prozent.
Mögen hätten wir gewollt, aber dürfen ging nicht, könnte man in Abwandlung eines im Volksmund beliebten Spruches sagen. (Im Original lautete er: Mögen hätten wir gewollt, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.)
Inzwischen ist die BRD ja nicht mehr die „Insel der Seligen“, wie man sie spöttelnd in den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts nannte, sondern inzwischen ist die BRD in Europa angekommen. Was heißt, daß das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht mehr das letzte Wort hat. Da gibt es ja noch eine Institution mit dem sperrigen Namen „EGMR“, sprich „Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte“. Und der kann anders entscheiden als das bundesdeutsche Höchstgericht.
Männer wie Friedrichs oder Lammert stützen ihre Meinung weniger auf die Verfassung der BRD oder einfache Gesetzes unseres Landes als eher auf einen anderen sperrigen Begriff: Die „EMRK“, sprich „Europäische Menschenrechts-Konvention“. Die bestimmt in ihrem Artikel 11, unter welchen Umständen „Vereinigungen“ verboten werden dürfen. Wozu sowohl Parteien als auch Vereine, Gewerkschaften oder sonstige organisierte Mehrheiten von Personen gehören. Und da gibt es eine klitzekleine Differenz zwischen BRD-Recht und EU-Recht. Nach BRD-Recht dürfen nämlich „Vereinigungen“ wegen einer rein abstrakten Gefährdung verboten werden. Nach EU-Recht nur wegen einer konkreten Gefährdung.
Das macht es sehr unwahrscheinlich, daß ein NPD-Verbot vom europäischen Höchstgericht bestätigt wird; es macht es wahrscheinlicher, daß die nur mild lächelnd den Kopf schütteln und nein sagen.
Zur Stützung der Haltung von Herrn Lammert haben sich in den letzten Tagen gleich zwei emeritierte Richter des Bundesverfassungsgerichts geäußert und auf die Risiken dieses Verfahrens beim europäischen Gericht in Straßburg hingewiesen. Der eine war Herr Grimm, 1999 aus dem Höchstgericht ausgeschieden. Der andere war vielleicht noch ein bißchen bedeutsamer: Herr Hassemer, vormals Vizepräsident des Gerichts und Präsident des zweiten Senats, der in den Jahren 2001 bis 2003 mit dem ersten Verfahren gegen die NPD befaßt war.
Jetzt meldet sich, nach seinen Hoffnungen zum guten Schluß, einer der Vertreter von Herrn Lammert zu Wort: Der Vizepräsident des deutschen Bundestages, Thierse, von Spöttern auch gelegentlich als Zauselbart bezeichnet. Herr Thierse verlangt ein Ende der Debatte. Und zugleich verlangt er, daß Regierung und Parlament sich dem Vorstoß der Länderkammer anschließen.
Klingt irgendwie fast stalinistisch. Oder, um es ein wenig freundlicher auszudrücken und für humanistisch gebildete Menschen verständlicher: Roma dicit, causa fini est. (Rom hat gesprochen, die (Rechts)Sache ist zuende.)
Dabei hat Herr Thierse sie natürlich nicht beendet. Denn die Frage, ob die zwei anderen Verfassungsorgane sich dem Vorstoß der Länderkammer anschließen, ist damit noch lange nicht beantwortet. Schade, daß der Sohn eines Rechtsanwalts nicht den Beruf des Vaters erlernt hat, sondern an der Universität Germanistik und Kulturwissenschaft studiert hat. Mit ein wenig mehr Rechtskunde wüßte er, daß es für das Höchstgericht der BRD völlig egal ist, ob nur eines von drei Verfassungsorganen den Antrag stellt oder zwei oder drei. Darauf mußte ihn der akut im Dienst befindliche Verfassungsrichter Müller hinweisen.
Und auch ein paar andere Kleinigkeiten hätte Herr Thierse berücksichtigen können.
Die Länderkammer möchte ihren Antrag nach bisherigen Medienmeldungen im März 2013 fertig haben.
Das ist ein problematischer Zeitpunkt. Denn im April 2013 scheidet eine Richterin des Zweiten Senats aus. Im Frühsommer 2015 scheidet übrigens der nächste aus. Das Verfahren des Parteiverbotes hat ein paar Besonderheiten, die es von anderen Verfahren unterscheiden. Es dürfen nur die Richter mitwirken, die zum Zeitpunkt der Antragstellung im Dienst sind. Wenn also die Entscheidung nach dem Frühsommer 2015 fällt, dürfen nur noch sechs von ursprünglich acht Richtern entscheiden. Die müssen aber einstimmig entscheiden, denn eine andere Verfahrensvorschrift schreibt vor, daß zwei Drittel der ursprünglichen Richter für das Verbot sein müssen. Da würde dann schon ein einzelner Abweichler reichen, den Antrag zu kippen. Ein schwer kalkulierbares Risiko!
Taktisch besser wäre es, wenn die drei Verfassungsorgane zwar jeweils den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD stellen würden, aber eben zeitlich gestaffelt. Das erste im März 2013. Dann, nach dem Ausscheiden der ersten Richterin, das nächste Organ ab Mai 2013. Und vorsorglich vielleicht das dritte Organ nach dem Frühsommer 2015
Prozeßtaktische Erwägungen spielen aber keine Rolle, wenn wir es mit einer medial aufgeheizten Situation zu tun haben. Schließlich geht es um den Konsens aller Demokraten, es geht um den gemeinsamen Kampf gegen Rechts (Trademark), um die Verteidigung abendländischer Werte und so weiter und so fort.
Und vielleicht den Medien darum, das Winterloch ins Frühjahr und nötigenfalls in den nächsten Sommer hineinzuretten.
Also werden wir über das Thema noch eine ganze Menge lesen dürfen. Winters, sommers und wann auch immer.
Leave a Reply